Fiktionale Phantasien zwischen Opulenz und Purismus
Anmerkungen zu den zeichnerisch-malerischen Werken der Künstlerin Bettina Lüdicke Bildnerische Traditionen: Der Kanon der bildnerischen Mittel von Bettina Lüdicke macht der Tradition des Bauhauses und dem „bildnerisch-systematischen Denken“ eines Wassily Kandinsky oder eines Paul Klee, die Ihre Bildmittel in theoretisch didaktischen Schriftwerken wie beispielsweise „Punkt und Linie zur Fläche“ reflektiert haben, oder auch der Farbenlehre eines Johannes Itten nicht nur alle Ehre, sondern greift mit einer avancierten Bildästhetik weit darüber hinaus. Ihre Arbeiten muten in ihrer Frische und ästhetischen Radikalität nicht nur zeitgemäß an, vielmehr vermitteln sie einen fiktional futuristischen Eindruck. Die aktuellen Werke Bettina Lüdickes könnten uns zwar sowohl an die raumgreifend dynamische, russische Revolutionskunst mit ihren Raum-Konstrukten, tektonischen Versatzstücken und Architektur-Visionen erinnern, beispielsweise an die Werke eines Alexander Rodtschenkos, oder Wladimir Tatlins, als auch an den Suprematismus eines Kasimir Malewitsch. Allerdings auch aus dieser modernistisch-traditionellen Perspektive erscheint mir Lüdickes Bildnerei nicht wirklich fassbar zu sein. Inhalte und formale Aspekte: In inhaltlicher Hinsicht erleben wir eine fast „planetoid-mythische Kosmologie“ jenseits unserer alltäglichen Erfahrungsräume, die kosmische energetisch-elementare Dimensionen eröffnet, die „Quantenfelder und String Modelle“ der theoretischen Physik visuell assoziieren lassen. Die Arbeiten muten nur auf den ersten Blick technoid und Computer generiert an. Sie gleichen nur einen kurzen Moment einer simulierten synthetischen Matrix. Vielmehr eignet den Bildnereien ein informell-gestischer, spielerisch-malerischer und freier Gestaltungsgestus, der uns bei aller konstruktiven Akkuratesse und diszipliniert kalkulierten Ausführung zu verblüffen vermag und poetisch bezaubert. Die Eleganz und schnittig dynamische Gestaltung wird immer wieder gebrochen etwa durch sperrig Unförmiges, das ins bildnerische Geschehen drängt, oder durch überraschend eingeblendete oder eingeschobene Formgebilde wie Schnüre, Sprengsel, blitzartige weiße „Gewitter-Gerinnsel“, bizarre Konglomerate und sternartige Flecken, die in einer Weise komplexe, kompositorische Strukturen zeitigen wie es m.E. kein Gestaltungs-Algorithmus vermöchte. Auch würde eine Kategorisierung der zur Rede stehenden Werke als „generative oder Computerkunst“ sowohl ästhetisch als auch handwerklich völlig danebenliegen. Künstlerisch ästhetische Praxis: Die Arbeiten sind im wahrsten Sinnes des Wortes von einer artistisch-künstlerischen „Handarbeit“ mit Kugelschreibern und Tusche gefertigt, die der Schaffenden größte Konzentration abverlangt, und eher einem kontemplativen Gestaltungsritual gleicht, wie es uns in der traditionellen japanischen Kunst begegnet. Auch die facettenreichen Variationen des wiederkehrenden bildnerischen Grundthemas der Künstlerin, bei einer gleichzeitigen Beschränkung auf ein Basis-Set ästhetischer Mittel und bildnerischer Strategien erinnert an die Bild-Zyklen traditioneller japanischer Kunst. Das vorläufige zeichnerische Werk und seine künstlerische Signifikanz: Lüdicke hatte in ihren bisherigen Zeichnungen noch tektonische Innenräume konstruiert, in denen sie harmonisch bis bizarr anmutende Morphologien und surreale Metamorphosen entfaltet, die sie farblich subtil und minimalistisch koloriert. Sie inszeniert darin abstrakt figurative Episoden und erzählt auf eine verspielte Weise von vitalen und erotisch geladenen „Begegnungen“ „der anderen Art“. In Anbetracht ihres zeichnerisch-handwerklichen Könnens erliegt Bettina Lüdicke in ihrer gesamten zeichnerisch-malerischen Bildnerei weder der Gefahr einer grafischen Effekthascherei noch der eines dekorativen „Oberflächen-Designs“. Thematische und bildnerische Erweiterung: In ihrer neuen Werkgruppe löst sich Bettina Lüdicke sowohl thematisch als auch formal von ihrer bisherigen Bildsprache und Diktion. In ihren neusten zeichnerischen Werken offenbart uns Lüdicke ein kalkuliert komplexes und geöffnetes bildnerisches Geschehen, das sie noch radikaler über die Bildkanten der Blätter hinausführt und mit den daraus resultierenden Anschnitten ihrer Formsegmente durch die Bildkanten zuspitzt. Sie greift über den traditionellen Bildraum hinaus, wie wir es sowohl aus den japanischen Holzschnitten als auch aus dem amerikanischen „Color-Field Painting“ kennen. Bildgefüge und Komposition: Seriell-symmetrische Lineamente rhythmisieren die Flächen und versetzen sie in eine unterschwellig virulente Vibration, gleich einem visuellen „Soundteppich“. Ein Alphabet von Signalen und geheimnisvollen Chiffren, durchsetzt die schwingenden Flächen. Malerisch glühende Farbverläufe durchtränken subtil kalkuliert die nüchtern-strenge Grundstruktur und laden das bildnerische Geschehen auf eine sehr suggestive Weise affektiv auf. Wir werden ergriffen von einem künstlerisch-dialektischen Spiel zwischen Opulenz und Purismus. Die Künstlerin entfesselt in ihren filigranen Lineamenten und poetisch bis kalkuliert nüchternen Raumgespinsten eine mitreißende Dynamik durch den Widerstreit von dionysischen und apollinischen Ausdruckskräften Assoziationsräume: Die neuen zeichnerischen Werke von Bettina Lüdicke offenbaren einen musikalischen Charakter. Simultan getaktete Wechselfelder und melodisch harmonische Bögen werden durch Halbtonschritte und Synkopen gebrochen, wie wir es aus dem „Modern Jazz“ und aus der „atonal-elektronischen“ Musik eines Karlheinz Stockhausen kennen, und sogar die Klänge der „elektronisch-seriellen“ Musik von „Kraftwerk“ assoziieren lässt. Die Kolorierung hat bisweilen etwas „pop-artig“ Verklärtes, wobei das signifikante bildnerische Geschehen getränkt ist mit einem Schuss „poetisch-technoider Mystik“ wie sie uns in der „Science-Fiction Saga“ eines Isaac Asimov begegnet, vor allem in seinen „Geschichten um das galaktische Imperium der fernen Zukunft.“ Bildgefüge und Konstruktion: Bettina Lüdicke spannt ihre strengen, symmetrisch-seriellen Gliederungen über den weißen Fond des Papiers wie die Stränge eines Seiteninstruments. Die gegliederten Linienfelder werden durch kreisförmige Farblicht-Gebilde durchleuchtet, die gleich einer sinnlich opulenten Opernarie ihre malerische Stimme erheben. Gegenläufige asymmetrische Schraffuren und Rasterungen verdichten sich zu kreisförmigen wandernden Scheiben und werden von farbig modulierten Scheiben konterkariert, die durch subtil pastellfarbene Farbverläufe voluminös moduliert sind. Exemplarisch signifikant für die gesamte aktuelle zeichnerische Werkgruppe erscheinen mir Bildgrammatik und die raffiniert kalkulierten stilistischen Mittel der Arbeit „Morgenhimmlisch 14“ aus dem Zyklus 8. Breite Lichtbahnen und Bänder von stufenlosen Farbverläufen von blau bis dunkelrot mit einer violetten Übergangszone kontrastieren im Bild komplementär das Gelb und Orange eines changierenden Kreises mit seinem subtilen Grünschimmer und tauchen das gesamte Bildgeschehen in ein magisch kosmisches Licht. Bettina Lüdicke versteht sich darauf, die parallel und diagonal verspannten Basislineamente abwechslungsreich und formal vielgestaltig aufzubrechen, und zeitigt damit Anmutungen puristischer Partituren einer monumental- planetarischen Fuge. Bei meiner kontemplativen Betrachtung des gesamten „Werkzyklus 8“ kommt mir das berühmte Orchesterwerk „Die Planeten“ von Gustav Holsts in den Sinn, respektive ins Ohr, das der Komponist und geniale Keyborder Josef Marschall mit seinem Keybord und Soundgeneratoren elektronisch transformiert und interpretiert hat. Siehe: https://www.nr-kurier.de/artikel/58225-konzert-von-josef-marschall---electronic-manoeuvres- Plastische Arbeiten: Bettina Lüdicke hat eine ästhetisch-plastische Strategie entwickelt, mit Draht in den Raum zu zeichnen und „Übergangs-Gebilde“ zu schaffen, die uns auf poetisch assoziative und spielerische Weise Geschichten erzählen und wie in ihren jüngsten zeichnerisch-malerischen Werken von planetarisch fiktionalen Episoden berichten. Lüdicke durchdringt mit Draht den Raum, schneidet zeichnerisch in diesen hinein, verdrahtet Raumvolumen und verdichtet sie zu rundlich durchlässigen Gebilden, die sie oft seriell verschaltet. Sie markiert stationäre Bezirke und artikuliert schwebende Übergänge, die in einigen Arbeiten wie Passagen eines „planetoid-orbitalen Reigens“ anmuten. Fiktionale Zwischenwelten und schwerelose Spielzüge, Anmutungen futuristischer Metamorphosen, ambivalente Anmutungen die technoid-organisch changieren. Das sind Passagen wie sie uns auch im zeichnerisch-malerischen Werk der Künstlerin begegnen. Die Leere und der bildnerische Raum: Flechtwerke aus Draht verkrallen sich zu utopisch futuristischen Konglomeraten, die den Raum durchdringen, ihn zerstückeln und binden. Innen- und Außenraum werden in einem dialektisch schwerelosen Spiel miteinander verzahnt. Die Künstlerin artikuliert ein energetisch geladenes „Tao der Leere“. Rita Böhm führt in einem Vortrag in ihrem Atelier in Berlin zum Neujahrsfest 2014 zum Begriff der Leere in der ostasiatischen Tuschmalerei aus: >>“ Einer der Grundgedanken, ja zentraler Begriff des chinesischen Denkens ist der Begriff der Leere. Es sind die Philosophen der taoistischen Schule, die die Leere ins Zentrum ihres Systems rückten. Die Leere ist weniger eine Erklärung, vielmehr geht es hier um ein „Verständnis“ oder „Einverständnis“, und damit letztlich um eine Weisheit, die sich als Lebenskunst begreift. Das Eindringen in die Leere ist das Einswerden mit dem Tao. Und zwar in einem doppelten Sinn: von dem Maler aus, indem er durch Selbstentäußerung und Hingabe sich mit den Bildern erfüllt, dann aber auch die Leere im Bild selbst. Tao ist die Atmosphäre, Tao ist der fremd-unfassbare Raum. Tao ist gewissermaßen der Nullpunkt des Seins. In ihm sind alle Gegensätze gleich zugänglich und in ihm heben sie sich einander auf. Aber er ist nur wirklich zu erleben, als das, was zwischen dem Dargestellten ist. Dieser Nullpunkt ist das Geheimnis der chinesischen Geistigkeit.“<< Zitat in in https://www.sumi-e-berlin.de/de/ueber-die-leere/ „In der Leere des Bildes, in einem fremd-unfassbaren Raum des Tao, gewissermaßen der Nullpunkt des Seins“ liegt nicht nur das Geheimnis der chinesischen Geistigkeit, sondern meines Erachtens auch das magische Geheimnis der bildnerisch-plastischen „Zwischenräume“ in Bettinas künstlerischem Schaffen. © Robert Reschkowski, Mai 2020