Eröffnungsrede zur Ausstellung RAUMFORSCHER

Kunstverein Rhein-Sieg / PUMPWERK Siegburg, November 2012 ( Bettina Lüdicke, Petra Ottkowski )  

Raumforscher klingt nicht besonders auffällig, vielleicht deswegen, weil unsere Sprache unzählige Kompositbegriffe mit Raum anbietet. Warum soll es also nicht auch Raumforscher geben ? Obwohl er sich auch in äußerst winzigen Dimensionen erstrecken kann - wie im Nano- oder Atomgrößenbereich, sprechen wir von Raum häufig dann, wenn es darum geht, Weite, Potential oder Unendlichkeit zu vermitteln: Weltraum, Raumschiff, Raum für neue Ideen.Zwischen diesen beiden Auffassungen, also innerhalb des für unsere Sinne erfassbaren Bereichs, sind wir es gewohnt, Raum zu messen und einzuteilen. Und kaum etwas ist uns selbstverständlicher als das.
   Raum ist für Menschen eine Kategorie, eine grundsätzliche Gegebenheit. Wir können gar nicht anders, als räumlich zu denken: wenn wir auf schwarzem Grund einen Punkt hin- und herwandern sehen, dessen Größe sich verändert, deuten wir dies selbstverständlich als Bewegung im Raum. Allein durch unsere physische Präsenz nehmen wir Raum in Anspruch. Wir bewegen uns im Raum, denken nicht darüber nach. Wir möchten den Raum „beherrschen“, meinen vielleicht, wir hätten ihn „im Griff“. Aber das ist eine Illusion, denn wirklich beherrschen können wir ihn nicht, genauso wenig wie die Zeit. Wir begnügen uns damit, ihn zu definieren und zu gliedern. Wir haben Einheiten geschaffen, die sich wie ein Gitterwerk über die Welt legen. Z.B. Quadrate für das Flächenmaß und Kuben für den Raum. Für den Weltraum gibt es Modelle des gekrümmten Raumes. Die Geometrie des Raumes entspringt unserer Ideenwelt, die sich mittels abstrakter Ordnungsgefüge wie der Mathematik absichert. Raum - Erfahrungen neuer Qualität machen wir selten, z.B. dann, wenn wir eine große Distanz zurücklegen müssen. Aber selbst solches wird im Zeitalter des Flugverkehrs seltener. Oder wenn wir im dichten Nebel stecken und die Orientierung verlieren.
   Aber für uns ist Raum niemals bloß ein Aspekt der Wahrnehmung, sondern auch der Vorstellung und Utopie. Indem wir Raum erkunden - am liebsten grenzenlos- erkunden wir unsere Möglichkeiten. Als schutzbedürftige Wesen bauen wir Binnenräume, schaffen das Innen und Außen.
   Bauwerke sind aber nicht nur Schutzräume, sondern auch eine Metapher für unser geistiges Innen - und Außenleben. Kinder in manchen Altersphasen bauen gerne Behausungen, - ein Hinweis auf Entwicklungen, die das Innen und Außen neu definieren.
   Zeigen sich im emotionalen Bezug zum Raum innere Befindlichkeiten ? Wir wissen, Menschen haben sehr unterschiedliche Bevorzugungen bezüglich Raumsituationen. Die Räume, in denen wir uns einhausen, sagen viel aus über unsere Neigungen und Eigenschaften. Vorsichtige Menschen bevorzugen übersichtliche, abgegrenzte Räume, der weite Horizont des Meeres macht sie unsicher.
   Ist Raum - Erlebnis zugleich Selbst - Erlebnis ? Während meiner Akademie - Zeit (Autor) hatte ich die Gelegenheit zu Raumerfahrungen besonderer Art. Eingeladen zu einem Aufenthalt in einem Landhaus, bekam jeder Teilnehmer vor dem Betreten des Gebäudes eine Augenbinde angelegt. In dieser Weise des Sehens verlustig gegangen, erkundeten wir das gesamte Gebäude tastend und machten dabei Skizzen von den ungefähren Raumzusammenhängen. Sowohl diese Ergebnisse als auch das Erlebnis selbst verdeutlichten unsere Fixierung auf die Seherfahrung.
   (Quintessenz: ) Unsere Raumerfahrung ist direkt abhängig von unseren Sinnen: von der akustischen, visuellen, haptischen Wahrnehmung. Ohne Licht ist das Raumerlebnis zumindest ein kategorial anderes: wir sind auf unser Sehen als Instrumentarium fixiert. Wesentlich ist auch unsere Erfahrung: man ist durchaus in der Lage, haptische Qualitäten eines Gegenstandes zu erkennen, ohne ihn zu berühren.
   In der Kunst ist hat die Frage des Raumes von je her eine besondere Bedeutung. Wohlgemerkt : nicht nur in der Skulptur, der raumgreifenden Gattung, auch im Bild - oder in ganz besonderer Konstellation: im Relief. Es gibt kunstwissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit der Entwicklung des Raumes in der Bildenden Kunst auseinandersetzen, oft im Zusammenhang der Perspektive.

Ein Beispiel für die Bedeutsamkeit der Frage des Raumes ist die Emanzipation der Figur von der Bindung an Architektur am Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit: die Skulptur tritt aus der Wandnische heraus, lässt sie schließlich hinter sich und wird autonom - in einer Weise, wie wir sie am Petersdom und überhaupt der Renaissancefigur zu sehen bekommen. Gleichsinnig kann man aus der Untersuchung des Bildraums Erkenntnisse gewinnen. Denken wir nur an den Bildraum der antiken Malerei in Pompeji. Er ist häufig diffus, aber ein Raum der Fülle, die z.B. im frühen Mittelalter nicht zu finden ist. Der Renaissancekünstler triumphierte mit den Mitteln der Perspektive als Herrscher über den Raum und endlose Weiten - was einem erwachenden Selbstbewusstsein des Menschen entsprach. Spätestens in der Kunst des 20. Jh. - dominiert der autonome Bildraum- z.B. in der der Abstraktion. (es gab Vorläufer !) Die Sichtweise des Menschen ist relativ, Fragment, individuelles Splitterwerk.
   Nun - es wäre verfehlt, derlei Anhaltspunkte direkt auf die Kunst unserer beiden Ausstellerinnen zu übertragen. Denn die Kunst unserer Zeit operiert mit nahezu allen bildnerischen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen. Aber allemal sind sie in unserem Zusammenhang hilfreich. Wie verhält es sich also mit den Begleitern der Kategorie Raum - Geometrie, Perspektive, Linie, Fläche, Licht, Farbe , dem Verhältnis von Innen und Außen ... und schließlich - der Zeit ?
   Es sind - wie der Titel schon sagt - Raumforscherinnen. Indem sie eine „forschende“ Haltung einnehmen, wenden sie sich von Selbstverständlichkeiten ab; untersuchen Wirkungszusammenhänge. Was erforschen sie ? Welchen Umgang pflegen die beiden Künstlerinnen mit dem Raum ? Was hat das zu bedeuten ? Vorab gilt es festzustellen, dass man damit keine Klärung des Gesamtwerks der bei- den Künstlerinnen herbeiführen kann. Ihre Werke haben erkennbar eine Substanz, die über den angesprochenen Kontext hinausgeht.
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Bettina Lüdicke

Grundsätzlich können wir bei der Skulptur ein anderes Realitätsverhältnis unterstellen. Immerhin dehnt sie sich nicht in einem illusionären, sondern demselben Raum aus, der auch der unsere ist. Und es scheint, als hätten wir auch ansonsten nur Aspekte zu erwarten, die sich von der Malerei Petra Ottkowskis grundsätzlich unterscheiden.
   Es sind luftige Gebilde, scheinbar ohne Masse und schwerelos, dennoch präsent. Aber auch sie haben etwas Architektonisches, freilich anderer Art als in der Malerei ihrer Kollegin oder der Vorstellung von Architektur, wie wir sie üblicherweise zugrunde legen. Zweifellos gibt es Ordnungsgefüge, das spüren wir. Es sind Systeme; aber keine Systeme geometrischer Herkunft. Sie folgen eher organisch-naturhaften Regeln, etwa in der Art, wie die Spinne ihr Netz herstellt oder Kokons wickelt. Auch ihrer Skulpturen fehlt jegliche Abbildhaftigkeit. So wie die Linie in der Fläche die ursprünglichste, erste Dimension darstellt, ist Draht das plastische Analogon dazu: Bettina Lüdicke „zeichnet“ mit Draht in den Raum hinein.
   Wir verbinden die Linien gedanklich zu Flächen - und haben die zweite Dimension; die Fügung der Flächen zueinander ergibt die Raumkonzeption. Die Bereiche dazwischen bleiben frei, sodass eine Art „Raum im Raum“ entsteht. Verdichtung und Leere. Der leere Raum als Element der Skulptur. Je nach Objekt sind die gliedernden Module unterschiedlich aufgebaut. Wir haben in diesen Skulpturen eine gleichzeitige Innen - und Außensicht, Körper und Raum stehen im harmonischen Ausgleich.
   Man vergleiche das mit dem Körperraum der Malerei der Kollegin - auch dort wissen wir nicht genau, ob wir uns innen oder außen befinden. Man kann sagen: die Künstlerin gewinnt den Raum - erobert ihn, statt ihn zu erfinden oder zu konstruieren oder zu messen.
   Und das Licht ? Es macht zwar die Objekte für uns sichtbar. Und diese ignorieren das Licht, denn sie lassen es hindurch, und die Drähte sind geschwärzt. Gerade dadurch aber erhalten sie ein Minimum an körperhafter Präsenz. Prinzipiell haben sie aber auch eine haptische Dimension, diese aber wird wegen der Transparenz der Objekte in Frage gestellt: Denn trotz unserer Versuche, das Wahrgenommene zu sinnvollen Körpern zu ordnen, gerät der Eindruck immer wieder ins Wanken, weil die rückseitigen Gitterlinien ins Spiel kommen. Also auch bei diesen Objekten findet man eine Irritation des scheinbar objektiv Gegebenen. Auch der Faktor Zeit spielt eine Rolle: Bewegung im Raum setzt Zeit voraus.
   Im Kabinett hat Bettina Lüdicke eine Installation aufgebaut: dort sehen wir kleinere Objekte in der Art, wie sie in gesamten Haus platziert sind, ergänzt um einige andersartige: z.B. leere Leinwandflächen oder weiße Kästchen mit geometrischer Vermaßung. Ein charmanter Hinweis auf diese - ganz andere, nämlich geometrische - Erfassung des Räumlichen und den realen Charakter auch gerade einer leeren Leinwand ohne jegliche illusionäre Wirklichkeit.

Aller Wahrnehmung - so sehen wir in dieser Ausstellung - haftet etwas Individuelles und somit Relatives an. Die zentralisierte Welt der Renaissance ist schon längst mittelpunktlos und fragmentarisch geworden. Also brauchen wir die Künstler, um uns mit diesem Umstand freundlich zu arrangieren. Und - zum Schluß vermerkt - dem Titel der Ausstellung zum Trotz - Raum ist nicht alles. Die Werke beider, Petra Ottkowski und Bettina Lüdicke, beinhalten wesentlich mehr, als man unter der Fragestellung des Raumes anreißen kann. Lassen Sie sich auf die Werke ein und suchen Sie das Gespräch mit den Künstlerinnen, bevor sie wieder in den fernen Osten gehen. Sie werden noch viel mehr entdecken !

© Reinhard Lättgen, 2012