Durch und durch.
Zu den Raumkörpern von Bettina Lüdicke.
Feste Koordinaten gibt es nicht. Fixpunkte gleichwohl: Dicht umwickelt rhythmisieren eine Vielzahl stabilisierender Knotenpunkte ein millimeterfeines, weitgehend transparentes Gefüge aus Kupfer- oder Bronzedraht, das graphische (Binnen)Strukturen, filigrane (archi)tektonische oder der Natur entlehnte Konstrukte zu raumplastischen Elementen verbindet. Leichthändig spielen Bettina Lüdickes raumbildende, luftige Konstellationen mit Gravitationskräften, tragen Wachstum und Veränderung in sich und verorten sich immer neu im Innen- wie im Außenraum.
Biegsam umspannt das Metall einzelne Segmente, setzt Grenzen, öffnet weitere Zonen, verspannt Flächen zu linearen Schraffuren, die wie Schatten anmuten und je nach Perspektive Stabilität, Schutz und Offenheit suggerieren. Luftige Strebewerke lassen Zellkörper oder kokonähnliche Gehäuse zu umfassenden Dialogen mit beziehungsreichen Gefügen von Innen- und Außenansichten wachsen, die in jeder Ader Elastizität und taktilen Spürsinn bewahren. Seien sie in der Geometrie verwurzelt, organisch entwickelt oder in Analogie zu Kosmos und planetaren Systemen aufeinander bezogen, immer sind die einzelnen Module und Wegstrecken einer umfassenden Idee mit- und ineinander verwoben, verdichtet, gestapelt, angedockt, vernetzt. Im vollendeten Werk festgehalten sind sensibel austarierte Balanceakte, die – Momentaufnahmen gleich – im Kippen, Schweben, Konzentrieren, Würfeln oder Kreisen die Schwerkraft ausloten. In kugelrunden Zellballungen mit pulsierenden Innenansichten scheinen sie magnetischen Anziehungskräften des Universums zu folgen oder mit turbulenten Verwirbelungen und hochfliegenden, flächig verspannten Bahnen Bewegungsimpulse zu evozieren, die sich an den losen Fäden der „Mobiles“ ganz real und sanft rotierend entfalten.
Umfassende Choreographien werden erprobt, Schattenspiele, bühnenreife Kammerspiele oder humorvolle Augenblicke in Szene gesetzt. „Willkommen“ ruft der Titel eines kleinformatigen feuerroten Objektes, das sich dem Betrachtenden öffnet und den Blick auf das Innenleben lenkt. Ein „Zwischenfall“ scheint folgenreich durch den ihm innewohnenden Dialog zweier farbig unterschiedener Partner. Auch beim Anblick eines eindringlich zugespitzten „Vis-à-Vis“ sollte das Miteinander der allgegenwärtigen und immer transparenten Perspektiven im Auge behalten werden, mögen die einzelnen Elemente dieses künstlerischen Universums auch noch so „orkanisch“ kreisen, sich in freien Annäherungen an tektonische Verschiebungen falten, kraftvoll wirbeln oder leise „atmen“. Mit „Saus und Braus“ bietet sich gleich ein ganzes Füllhorn an Möglichkeiten, die nur eingefangen werden wollen.
Öffnet sich ausreichend Raum, lässt Bettina Lüdicke durchlässige Kugelformationen wie schillernde Seifenblasen in luftige Höhen wachsen, bis sie schwebenden Halt an der Raumdecke finden. Andernorts besetzen Zellkörper oder „Soma“ als wachsende Entwicklungsstadien die Wände, nachdem sie ihre eigens geschaffenen Sandinseln verlassen haben, die ihnen in einer anderen Ausstellungssituation individuelles Fundament gewesen waren. An anderer Stelle ist der Moment des „Abhebens“ eingefangen, die losen Enden eines mit nichts als leerem Raum gefüllten Ballon-ähnlichen Objektes haben definitiv den Boden verlassen. Im logischen Umkehrschluss holt die Künstlerin einen ähnlich geformten hellen prallen „Tropfen“ zurück auf die Erde, um damit nicht nur einen weiteren Aggregatzustand zu verkörpern, sondern einen eingefangenen „Drop“ auf der grünen Wiese oder angelehnt an einen festen Kiefernstamm als federleichte „dropped sculpture“ inmitten der Landschaft temporär zu verorten. Eingebettet in die Natur oder bezogen auf die Architektur eines Raums, immer neu fängt Bettina Lüdicke räumliche Konstellationen ein und entwickelt sie zu visuellen Ereignissen, die Teil und Ganzes als universelle Einheit erfahrbar machen.
Nicht zuletzt das Verlangen nach steter Veränderung mag Movens sein, die Skulpturen auch im Außenraum in immer neue Kontexte zu setzen und damit den jeweils eigenen Standpunkt im Kräftespiel mit Wind und Wellen, Sonne und Licht immer neu zu befragen und überraschende Augenblicke auch mit der Kamera zu dokumentieren. Die Fotografien Lüdickes verweisen einmal mehr auf die innere Balance und Stabilität einer Skulptur, sie öffnen darüber hinaus auch neue Assoziationsräume im Zusammenspiel mit der Natur, werfen Licht auf strukturelle Parallelen wie auch gegenläufige Strukturen, Anziehungskräfte und Wahrnehmungsprozesse, die die natürlichen Veränderungen bieten.
Jenen auf Bewegung, Wandel und Modifikation zielenden Einflüssen der Natur entsprechen im Innenraum die installativen Licht-Raum-Modulationen, die Lüdicke als faszinierendes Schattenspiel und raumplastisches Ereignis ihrer Werke im Raum inszeniert und mit ihnen ein fernes Echo der kinetischen Lichtobjekte eines Lázló Moholy-Nagy oder nachfolgenden kinetischen Künsten evoziert. Während die Natur mit leisen Böen, frischen Brisen, unaufhaltsamem Wellengang, Schaumkrönchen, Spiegelungen, fließenden Übergängen überraschende Parallelen zu kunstimmanenten Strukturen offenbart und vielleicht auch glücklichen Zufällen Raum gibt, sind die Licht-Schatten-Inszenierungen im bühnengleichen Innenraum präzise eingefangen, die luftigen Volumina, Strukturen, Flächen, Linien mit Kalkül aufeinander bezogen und auf Knopfdruck jederzeit neu abrufbar.
Die Mehrzahl der linearen Skulpturen präsentiert sich in mattem Schwarz der Patinierung, die den Kupfer- oder Bronzeton des Werkstoffs schützend umfängt und die graphische Wirkung der Objekte unterstreicht. Aus malerischen Ausdrucksmöglichkeiten schöpfen jene raumplastischen Kompositionen, in denen einzelne Partien mit Farbe hervorgehoben werden, während andere Serien wiederum gänzlich in leuchtendes Rot oder lichtes Weiß getaucht sind. Mit ausgewählten Fundstücken knüpft Bettina Lüdicke an Techniken der Assemblage oder Collage an, nicht nur um Kunst- und Alltagswelt zusammenzuführen, sondern um mit jenen dem Werk „einverleibten“ Dingen das bewusst dynamische, vielperspektivische Spiel hin zu umfassenden Erlebnisräumen und deren Wahrnehmung weiter zu treiben. Ganz beiläufig werden mit teils wiederkehrenden Fundstücken, sowohl der Werkstoff und dessen Handhabung als auch die daraus entwickelte Linienformationen vor Augen geführt und mit Lust am spielerischen Experiment anverwandelt. Mit dem perforierten „Kopf“ einer vogelähnlichen Gestalt, die analog zum barocken Motiv des Repoussoir im Gemälde den Blick des Betrachters über das Wasser lenkt, wird sicher nicht zufällig ein weiteres Sensorium hin zur Leitfähigkeit von Kupferdraht wachgerufen. Alles zeigt sich mit allem verwoben – Fundstücke inklusive.
In ihren Arbeiten auf Papier, die streng lineare Zeichnungen mit frei fließenden farbigen Bahnen aus Tusche verbinden, setzt Bettina Lüdicke weitere Energien auf der Fläche frei. Mit gezielten Eingriffen werden ausgewählte Partien ausgespart, um diese mit gegenläufigen Ordnungen hervorzuheben, Fenster im Bild zu öffnen oder den gewonnen Freiraum mit Farbe zu erschließen. Mit graphischen Strukturen sowie Moiré-Effekten sind auch in diesem Medium Anklänge an die visuellen Bewegungsimpulse der Op-Art und Kinetik erkennbar. Diese werden mit überraschendem Kolorit aus leuchtend transparenten Farbbahnen und wie zufällig gesetzten lichten Spuren gleichsam organisch gesteigert. Die farbigen Schleier schaffen Fokussierungen, setzen Passagen in jene geheimnisvollen poetischen Topologien zwischen Tag- und Nachthelle.
Ob „Morgenhimmlisch“ oder als „Mondentrio“, ob auf der Fläche oder im Raum, organisch gewachsen oder aus Fragen um Statik und Balance entwickelt, alle Werke von Bettina Lüdicke zeigen sich aus jeder Perspektive offen, spüren noch so fernen Zusammenhängen nach: In allem zeigt sich ein so dynamisches wie konstruktives Kräftesystem mit fortdauerndem Eigenleben – durch und durch.
Birgit Möckel, im Dezember 2020